Am anderen Ende der Welt
Über die Erfahrungen, die ein Auslandsjahr mit sich
bringt
Am Anfang eines jeden neuen Schuljahres treten viele Schüler ein
Auslandsjahr an. Aber es gibt auch Schüler, die können sich das überhaupt nicht
vorstellen. So ging es mir. Als ein Teil meiner Klassenkameraden
verschwunden war, habe ich mich verwundert gefragt: Warum machen die das nur?
Warum soll man in ein weit entferntes Land reisen, wo man keine Person
kennt? Warum soll man ein ganzes Jahr weggehen und kein bisschen Deutsch reden?
Warum soll man eine Menge Geld dafür bezahlen, bei einer fremden Familie zu
wohnen, die nicht seine eigene ist? Diese Gedanken gingen mir ständig durch den
Kopf. Mitte Dezember haben mir meine Eltern plötzlich vorgeschlagen, ein halbes
Jahr nach Neuseeland zu gehen. Meine erste Antwort war klar: Nein.
Dann habe ich aber noch mal nachgedacht. Meine schulischen Leistungen waren
nicht besonders. Auf einmal habe ich gedacht: Es könnte doch auch ein Abenteuer
sein, ganz alleine in ein Land zu gehen, das 18.000 Kilometer weit weg ist.
Ende Dezember war die Entscheidung gefallen: Ich gehe ein halbes Jahr weg.
Die Frage war nur, ob ich so kurzfristig einen Flug und ein Visum bekomme. Aber
auch das hat geklappt. Und dann ging alles ganz schnell. Am 24. Januar 2012
stieg ich in Berlin ins Flugzeug. Nur 25 Flugstunden trennten mich noch von
dem, was sich letztendlich als eines der besten Jahre meines Lebens
herausstellen würde.
Ankunft in Auckland
Als ich in Auckland, der größten Stadt Neuseelands ankam, waren 28
Grad. Ich war viel zu warm angezogen. Ich wurde von meiner Gastfamilie
abgeholt, die auf den ersten Blick nett zu seien schien. Die Gastmutter
war 48 Jahre alt, meine beiden Gastbrüder, die Ethan und Isaac heißen, waren 22
und 19 Jahre alt. Mein Gastvater 52.
Nach einer halben Ewigkeit kamen wir in meinem neuen Zuhause an. Sofort kam
Ernüchterung auf. Mein Zimmer war sehr klein und direkt zur Straße gelegen.
Morgens prallte die Sonne drauf, so dass man bei den hochsommerlichen
Temperaturen nicht wirklich länger als bis zehn Uhr schlafen konnte. Der
nächste Supermarkt war eine halbe Stunde zu Fuß entfernt und es war so gut wie
unmöglich, die öffentlich Verkehrsmittel zu verstehen.
Die ersten Tage, bevor die Schule anfing, habe ich genutzt, um meinen
Jetlag zu bewältigen. In Neuseeland ist die Uhr 12 Stunden weiter.
Gewöhnungsbedürftig war, dass man in Neuseeland als Familie meistens vor dem
Fernseher isst. Alle sitzen auf dem Sofa und haben das Essen auf dem
Schoß.
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Skyline von Auckland bei Nacht
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Die Schule
An meinem ersten Schultag war ich sowohl aufgeregt als auch nervös. Das
Pakuranga College ist mit 2600 Schülern die zweitgrößte Schule in Neuseeland.
Jedes Jahr werden dort ungefähr 100 internationale Schüler aus allen
erdenklichen Ländern aufgenommen. Ich habe unter anderem Schüler aus Malaysia
und Kolumbien kennengelernt.
Wir neuen Schüler wurden von den neuseeländischen Lehrern und dem Schulleiter
„nose to nose“ begrüßt. Das heißt, man hat Nase an Nase gerieben. Das war
ziemlich seltsam.
Da ich in die oberste Klasse ging, dem sogenannten Year 13, musste
ich keine Schuluniform tragen. Einen Vorteil gegenüber der deutschen Schule
habe ich sofort entdeckt: Man hat insgesamt nur 5 Fächer, die man sich allesamt
frei aussuchen kann. Das heißt es gibt keine Pflicht, eher unbeliebte
Fächer wie Mathematik oder Biologie zu wählen.
Die ersten paar Wochen sind sehr schnell vergangen. Ich habe viele neue
Leute kennengelernt, auch einige Deutsche, von denen es noch ungefähr 20 andere
in meiner Schule gab. Leider habe ich mich in meiner Gastfamilie nicht
wohl gefühlt. Das lag unter anderem daran, dass sie mir Freiheiten
verweigerten, die in Deutschland ganz selbstverständlich für mich waren. Darum
habe ich mich bei der Schulleitung um einen Wechsel bemüht, der aber erst nach
den Osterferien möglich war.
In der Schule
lief alles gut. Es ist ein schönes Gefühl, in die Schule zu gehen und zu
wissen, dass man sich keine Sorgen wegen seiner Leistung machen muss. Man wurde
für alles gelobt. Es wurde eher als ein Bonus angesehen, als ein zu erbringender
Standard, wenn man sich im Unterricht beteiligte.
Ein ganz besonderes Erlebnis war, als im Geschichtsunterricht das Thema
„Drittes Reich“ behandelt wurde. Da ich der einzige Deutsche in diesem
Kurs war, war es ein sehr seltsames, unangenehmes Gefühl, als einem der Lehrer
etwas über die nationalsozialistischen Verbrechen erzählt hat. In einer
gewissen Weise hat man sich schuldig gefühlt, auch wenn das mit einem
eigentlich nichts zu tun hat.
Die Südinsel
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Der Franz-Josef-Gletscher: Einer der tiefsten
Gletscher der Welt
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In den
Osterferien bin ich mit einer Gruppe von Schülern zur Südinsel gefahren.
Sie ist wenig besiedelt. Die Tour begann in Christchurch. In der Nähe
dieser Stadt gab es vor eineinhalb Jahren ein schweres Erdbeben.
Die Innenstadt war immer noch komplett abgesperrt, überall sah man
eingestürzte und komplett zerstörte Gebäude. Das war beeindruckend. Später sind
wir durch die Southern Alps auf die andere Seite an die Tasmanische See
gefahren. Auf dieser Reise habe ich 3.500 Meter hohe schneebedeckte Berge
gesehen, die direkt an Strände münden. Gletscher, die praktisch auf Meereshöhe waren.
Dichte Wälder, in denen Pinguine leben, die das Meer als Lebensraum
aufgeben haben. Und neuseeländische Ureineinwohner, die sich Maori nennen. Ich
habe Dinge ausprobiert, von denen ich nie geglaubt hätte, dass ich mich
das trauen würde: zum Beispiel Sky-Diving und Bungee- Jumping.
Der Kiwi
Zurück in Auckland, habe ich endlich meine Gastfamilie gewechselt. Die
neuen Gasteltern waren viel netter. Sie waren 26 Jahre jung und schon
einmal um die Welt gereist. Da ich ihr erster Gastschüler war, wussten
sie nicht, wie sie mit mir umgehen sollten und haben mir jeden Wunsch von
den Lippen abgelesen.
Mitte Mai wurde es auf einmal sehr kalt. Der Winter begann. Ich war nicht
auf kaltes Wetter eingestellt und wurde daher kalt überrascht. Morgens war die
Temperatur zum Teil auf Null Grad gefallen.
Im Juni realisierte ich plötzlich, dass mir nur noch drei Wochen
blieben. Ich war einerseits glücklich darüber, aber andererseits auch sehr
traurig. Die letzten Wochen vergingen viel zu schnell. Und schon war mein
letzter Schultag da. Ich wurde sehr freundlich verabschiedet. In
jeder Unterrichtsstunde, also in jedem der fünf Fächer, haben wir zusammen
gefrühstückt. Als besonderes Abschiedsgeschenk hat mich mein Gastvater in den
Zoo von Auckland eingeladen. Dort habe ich meinen ersten Kiwi – das
Wappentier des Landes - gesehen. Es ist ein kleiner, brauner, flugunfähiger
Vogel mit langen Beinen und langem Schnabel, der vom Aussterben bedroht ist. Er
ist nachtaktiv, fast blind und verlässt sich auf seine gute Nase und sein
Gehör. Die Neuseeländer sind ganz verliebt in ihn. Sie bezeichnen sich übrigens
auch gerne selbst als „Kiwi“.
Ich habe neue Sitten und viele nette Leute kennengelernt. Ich habe mein
Englisch verbessert, bin eigenständiger geworden. Wie gut, dass ich meine
anfänglichen Zweifel überwunden habe.
Oscar Plarre